Zweierlei Maß?
Die Rechtsprechung ist streng, wenn es um die Sorgfaltspflichten von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten im Zusammenhang mit der Einreichung über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) geht.
Milde hingegen läßt der BGH walten, wenn das Gericht erst bei Bearbeitung des Falls und damit nach Ablauf der Fristen die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs und dabei auch die Einhaltung der Form überprüft.
Prof. Dr. Henning Müller, Direktor des Sozialgerichts Darmstadt und Betreiber des Blogs ervjustiz.de hat zwei aktuelle Entscheidungen des BGH auf seinem Blog kommentiert, die ich aus Sicht der Anwaltschaft beleuchte:
Danach geht der BGH in seinem Beschluss vom 19. Januar 2023 – V ZB 28/22 – davon aus, dass § 130a Abs. 6 ZPO:
„(6) Ist ein elektronisches Dokument für das Gericht zur Bearbeitung nicht geeignet, ist dies dem Absender unter Hinweis auf die Unwirksamkeit des Eingangs unverzüglich mitzuteilen.“
keine Anwendung findet, wenn Signaturfehler geschehen. Danach sei das Berufungsgericht – entsprechend den Grundsätzen über das Fehlen einer Unterschrift – lediglich im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs verpflichtet, die Partei darauf hinzuweisen und ihr gegebenenfalls Gelegenheit zu geben, den Fehler vor Ablauf der Berufungsfrist zu beheben.
Zum Sachverhalt: Der Prozessbevollmächtigte (PB) des Beklagte legte gegen das am 14.12.21 zugestellte Urteil am 12.1.22 Berufung ein. Die Berufungsschrift war nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur (qeS) versehen. Beigefügt als Anlage war das angefochtene Urteil, diese Anlage hatte der PB mit qeS versehen. Weil die Übermittlung nicht auf einem sicheren Übermittlungsweg erfolgte (Übersendung durch Mitarbeitende) hätte die Berufungsschrift mit einer qeS versehen werden müssen. Es sei weder erforderlich noch ausreichend gewesen, lediglich die Anlage mit einer qeS zu versehen. § 4 Abs. 2 ERVV verbietet die Einreichung von mehreren elektronischen Dokumenten mit einer gemeinsamen qeS. Wiedereinsetzung könne nicht gewährt werden, denn der Beklagte sei nicht ohne sein Verschulden gehindert gewesen, die Frist zur Einlegung der Berufung einzuhalten.
Auf die fehlende Signatur hätte der Beklagte nicht hingewiesen werden müssen.
Zwar war die Berufungsschrift bereits zwei Tage vor Ablauf der Berufungsfrist (14.1.22) eingegangen, diese wurde dem stellvertretenden Vorsitzenden jedoch erst am 18. Januar 2022 vorgelegt worden. Dass die Geschäftsstelle die Berufungsschrift nicht vor Fristablauf vorgelegt habe, bewege sich im Rahmen des normalen Geschäftsgangs. Eine sofortige Formalienüberprüfung aller elektronischen Dokumente bedeute eine erhebliche Zusatzbelastung, vor der die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit geschützt werden müsse.
Der Prozessbevollmächtigte hingegen muss alles ihm Zumutbare tun und veranlassen, damit die Frist zur Einlegung oder Begründung eines Rechtsmittels gewahrt wird! Entweder muss er das Dokument mit einer qeS versehen oder das einfach signierte Dokument auf einem sicheren Übermittlungsweg (selbst) versenden. Der Zurechnungszusammenhang zwischen dem Verschulden und der Fristversäumnis seien vom Berufungsgericht rechtsfehlerfrei bejaht worden.
Im Hinblick auf den übrigen Geschäftsanfall sei es nicht zu beanstanden, wenn der Richter erst bei Bearbeitung des Falles und damit nach Ablauf der Fristen die Zulässigkeit der Berufung und dabei auch die Einhaltung der Form überprüft.
Eine generelle Verpflichtung des Gerichts, die Formalien des als elektronisches Dokument eingereichten Schriftsatzes sofort zu prüfen, bestehe nicht. § 130a Abs. 6 ZPO beziehe sich nur auf elektronische Dokumente, die die unmittelbar im Gesetz vorgesehenen Formvoraussetzungen erfüllen, davon nicht erfasst seien elektronische Dokumente ohne qeS, die ohne eine sichere Anmeldung des Absenders an das Gericht gesandt wurden. Die Fristversäumnis gehe zu Lasten des Beklagten.
Da die Berufungsschrift erst zwei Tage vor Ablauf der Berufungsfrist übermittelt wurde, war im gewöhnlichen Geschäftsgang nicht zu erwarten, dass der (stellvertretende) Vorsitzende des Berufungsgerichts den Signaturfehler noch vor Ablauf der Frist hätte bemerken und auf ihn hinweisen können. Die Prüfung der gesetzlichen Form und Frist der Berufungseinlegung obliege dem Berufungsgericht und nicht der Geschäftsstelle.
Brauchen Anwältinnen und Anwälte und deren Mitarbeitende einen beA-Führerschein?
Die weitere Entscheidung des BGH vom 11.1.23 kennt kein Pardon, wenn auf Seiten der Kanzlei Fehler passieren:
Wer als Rechtsanwältin und Rechtsanwalt nur eine pauschale Anweisung, das Vorliegen der Eingangsbestätigung gem. § 130a Abs. 5 Satz 2 zu kontrollieren, an sein Personal gibt, hat schlechte Karten. Denn eine so pauschale Anweisung lasse den Mitarbeitenden bereits darüber im Unklaren, welches im Zusammenhang mit der Übermittlung von Schriftsätzen im elektronischen Rechtsverkehr (ERV) erstellte Dokument eine elektronische Eingangsbestätigung ist. So der BGH in der Entscheidung vom 11.1.23 – IV ZB 23/21.
Anweisungen müssen konkret die praktischen Arbeitsschritte aufzeigen, die vom Mitarbeitenden zu erledigen sind.
Im Wiedereinsetzungsantrag hatte der Kläger vorgetragen, dass „im Zusammenhang mit der Übermittlung fristgebundener Schriftsätze über das beA die Arbeitsanweisung bestehe, nach Abschluss der Versendung des mit einer elektronischen Signatur versehenen Schriftstücks den Versandvorgang zu überprüfen. Der mit dem Versand des Schriftstücks betraute Mitarbeiter habe zu kontrollieren, ob das Schriftstück vollständig und an den richtigen Empfänger übersandt worden sei. In jedem Fall sei zu prüfen, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erteilt worden sei. Sei dies der Fall, habe der Mitarbeiter dem Rechtsanwalt zu melden, dass eine ordnungsgemäße Übertragung erfolgt sei und eine Eingangsbestätigung vorliege. Fristen dürften erst nach Kontrolle des Eingangsberichts gelöscht werden.“
Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist sei dem Kläger nicht zu gewähren, weil er nicht ausreichend dargelegt habe, dass er ohne sein Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert gewesen sei.
Ein Rechtsanwalt, der fristwahrende Schriftsätze über das beA an das Gericht versende, habe unter anderem das zuständige
Kanzleipersonal anzuweisen, dass stets der Erhalt der automatisiertenEingangsbestätigung zu kontrollieren sei.
Darzulegen sei, wie diese Überprüfung im Rahmen der Kanzleiorganisation genau zu erfolgen habe.
Konkrete Darlegungen zur Kanzleiorganisation hinsichtlich des Erhalts der Eingangsbestätigung lasse der Wiedereinsetzungsantrag vermissen. Es werde lediglich pauschal vorgetragen, dass nach der Kanzleiorganisation in jedem Fall zu prüfen sei, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht erteilt worden sei.
Dieser Vortrag reiche nicht aus. Dass es in der Kanzlei offensichtlich keine konkreten Anordnungen gegeben habe, wie die Eingangsbestätigung zu kontrollieren sei, zeigten auch die unpräzisen Angaben dazu, wie es im vorliegenden Fall zum Fehler gekommen sei.
Es falle in den Verantwortungsbereich des Rechtsanwalts, das in seiner Kanzlei für die Versendung fristwahrender
Schriftsätze über das beA zuständige Personal dahingehend anzuweisen, Erhalt und Inhalt der Eingangsbestätigung nach § 130a
Abs. 5 Satz 2 ZPO nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs stets zu kontrollieren.
Es genügt nicht, dass zur Organisation der Kanzlei der klägerischen PB die Weisung an die den Postversand tätigenden Büromitarbeiter gehört, zu prüfen, ob das elektronische Empfangsbekenntnis beziehungsweise die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO vorliegt.
Einer solcherart gefassten Anordnung fehlen, worauf das Berufungsgericht zutreffend abstellt, hinreichende Anweisungen dazu, wie der zuständige Mitarbeiter die Kontrolle im Einzelfall vorzunehmen hat.
Der Rechtsanwalt muss dem Mitarbeiter vielmehr vorgeben, an welcher Stelle innerhalb der benutzten Software die elektronische Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO zu finden ist und welchen Inhalt sie haben muss.
Wie die Eingangsbestätigung aufgerufen und ihr Inhalt überprüft werden kann, erfordert eine intensive Schulung der mit dem Versand über das beA vertrauten Mitarbeiter. Das gilt nicht nur im Fall der Versendung über die eigene Internet-Anwendung des beA, sondern auch dann, wenn der elektronische Rechtsverkehr – wie vorliegend in der Kanzlei der klägerischen PB – über die Schnittstelle eines Büroverwaltungsprogramms abgewickelt wird. Dass die Prozessbevollmächtigten des Klägers ihre den Postversand tätigenden Mitarbeiter entsprechend geschult oder angewiesen haben, hat der Kläger nicht vorgetragen.
Bei ordnungsgemäßer Organisation der Kanzlei der klägerischen Prozessbevollmächtigten wäre die fehlgeschlagene Übermittlung zeitnah erkannt worden. Die pauschale Schilderung genügt den an eine Kontrolle der Übermittlung elektronischer Schriftsätze an ein Gericht zu stellenden Anforderungen an die Kanzleiorganisation nicht.
Fazit:
Während die Justiz „im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor einer erheblichen Zusatzbelastung geschützt werden müsse“, verlangt die Rechtsprechung von der Anwaltschaft eine präzise Anweisung an die Mitarbeitenden, wie und welche Kontrollen durchgeführt werden müssen, um Fehler zu vermeiden und Fristabläufe sicher einzuhalten. Eine entsprechende Schulung oder Anweisung ist erforderlich. Bereits im August 2021 hatten wir im Blog auf die Verpflichtung zur Kontrolle und den Weg dazu hingewiesen. Zwischenzeitlich wurde die Rechtsprechung dahingehend präzisiert, dass es nicht genügt, nur die Eingangsbestätigung an sich zu kontrollieren, es ist auch erforderlich, zu überprüfen, ob die Dateianhänge (Schriftsatz, Anlagen, qeS) ordnungsgemäß bei Gericht eingegangen sind. BGH, Beschluss vom 20.9.2022 – XI ZB 14/22.
Brauchen wir jetzt den „beA-Führerschein“, um Kenntnisse im ERV nachzuweisen und wie bei der Fachanwaltsordnung eine Verpflichtung zur Fortbildung?
Empfehlenswert ist in jedem Fall, für die eigene Kanzlei eine Leitlinie für den Umgang mit beA aufzustellen und dort – am besten mit Screenshots – eine Schritt für Schritt Anleitung zu hinterlegen. Da sich beA und Rechtsprechung permanent weiterentwickeln ist es nicht damit getan, diese Leitlinie einmal zu erarbeiten und dann zu vergessen. Vielmehr sollte man in regelmäßigen Abständen das Wissen und die Umsetzung in der Kanzlei überprüfen. Internes Wissensmanagement sollte gepflegt werden, damit beim Ausscheiden von Mitarbeitenden kein Wissen verloren geht.